"Die durch Vernachlässigung bewirkte chronische Unterversorgung des Kindes durch die nachhaltige Nichtberücksichtigung, Missachtung oder Versagung seiner Lebensbedürfnisse hemmt, beeinträchtigt oder schädigt seine körperliche, geistige und seelische Entwicklung und kann zu gravierenden bleibenden Schäden oder gar zum Tode des Kindes führen."
SCHONE, 1997

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Die Erhebung des psychischen Befundes gehört weder in der Praxis noch in der Klinik zum diagnostischen Alltag.

Merkmale von misshandelten und vernachlässigten Kindern

In der Literatur zum Thema Kindesmisshandlung wird ein Merkmal als typisch für misshandelte Kinder beschrieben: Das Kind zeigt eine "gefrorene Aufmerksamkeit" (frozen watch-fulness). Es sitzt still auf seinem Platz und beobachtet seine Umgebung quasi aus dem Augenwinkel her aus, ohne sich zu bewegen. Es bewegt sich erst dann, wenn es sich unbeobachtet fühlt.

Als weitere typische Symptome für misshandelte Kinder werden emotionale Störungen (anhaltende Traurigkeit, Ängstlichkeit, Stimmungslabilität und mangelndes Selbstvertrauen) und Schwierigkeiten im Sozialverhalten beschrieben. Die Kinder sind entweder auffallend ruhig und zurückgezogen oder aber besonders aktiv, unruhig und schwierig (Aggressivität, Distanzlosigkeit). Bei der Entwicklungsbeurteilung findet man häufig Rückstände in der Motorik und Sprache.

Manchmal senden Kinder verschlüsselte Botschaften wie "Hier gefällt es mir" oder "Ich gehe gern ins Krankenhaus", die aussagen können, dass die Situation zu Hause schwer erträglich ist, ohne sie als solche zu benennen.

Auffälliges Verhalten des Kindes

Der Verdacht auf sexuellen Missbrauch entsteht manchmal durch auffälliges Verhalten des Kindes. Es zeigt inadäquates, sexualisiertes Verhalten oder nicht altersentsprechendes Wissen über Sexualität, das im Spiel oder in Zeichnungen dargestellt wird. Als Folge einer Missbrauchssituation kann eine plötzliche Verhaltensveränderung ohne ersichtlichen Grund entstehen.

Kinder meiden das Alleinsein mit einer bestimmten Person oder haben einen Schulleistungsknick, häufig verbunden mit sozialem Rückzug (internalisierendes Verhalten) oder unangemessener Aggressivität (externalisierendes Verhalten).


Seelische Gewalt

Seelische Gewalt und psychische Vernachlässigung können nur durch Verhaltensauffälligkeiten diagnostiziert werden. Diese Verhaltensauffälligkeiten sind allerdings nicht spezifisch für Misshandlung, sondern können viele andere Ursachen haben. Es gibt kein eindeutiges Merkmal und kein gesichertes diagnostisches Instrument, um seelische Gewalt zu erkennen.

Es ist jedoch möglich, zumindest einen Verdacht zu erhärten. In der Literatur werden eine Vielzahl von diagnostischen Hinweisen auf seelische Misshandlung gegeben, wenn organische Ursachen ausgeschlossen sind. Die meisten dieser Symptome sind auch bei sexuellem Missbrauch zu beobachten oder gehen mit körperlicher Gewalt einher (EGGERS, 1994):

 

Symptome bei seelischer Gewalt
Säuglingsalter Kleinkindalter Schulalter

* Gedeihstörung

* Motorische Unruhe

* Apathie

* "Schreikind"

* Nahrungsverweigerung Erbrechen, Verdauungsprobleme

* Psychomotorische Retardation

* (Sekundäre) Enuresis

* (Sekundäre) Enkopresis

* Daumenlutschen

* Trichotillomanie

* Nägelbeißen

* Spielstörung

* Freudlosigkeit

* Furchtsamkeit

* Passivität, Zurückgezogensein

* Aggressivität, Autoaggressionen

* Distanzschwäche

* Sprachstörung

* Motorische Störungen und Jactationen

* Kontaktstörungen

* Schulverweigerung, Abnahme der Schulleistungen, Konzentrationsstörungen

* Mangel an Ausdauer, Initiativverlust

* Hyperaktivität, "Störenfried"-Verhalten

* Ängstlichkeit, Schüchternheit, Misstrauen

* Suizidgedanken, Versagensängste

* Narzisstische Größenphantasien, Tagträumereien

 









Symptome, die auf körperliche Misshandlung deuten können, sind häufig nicht einfach zu bestimmen. So muss in jedem Fall das unbekleidete Kind untersucht werden. Es gibt mehrere Symptome, die den Verdacht auf Misshandlung sofort wecken sollten.

Stress-Symptome

Überängstliches Verhalten oder eine stark angespannte Bauchdecke in der Untersuchungssituation sollten an die Möglichkeit von Stress und Anspannung beim Kind und eine belastende Lebenssituation denken lassen.

Kriterien für Hämatome und Wunden auf der Haut

Hämatome und Hautwunden sind die Befunde, die in der täglichen Praxis am häufigsten im Zusammenhang mit Misshandlung vorkommen. Auf folgende Kriterien sollte geachtet werden: Lokalisation, Gruppierung, Formung und Mehrzeitigkeit. Bei 90% der Misshandlungsopfer werden Symptome der Haut (Hämatome, Striemen, Narben) an nicht exponierten Stellen (untypisch für Sturzverletzungen) und in verschiedenen Altersstadien (Verfärbungen und Verschorfungen) beobachtet.


Zwischen Verletzung und Misshandlung differenzieren

Dabei deuten Lokalisationen im Gesicht, am Gesäß, am Rücken, an den Oberarminnenseiten, im Brustbereich und auf dem Bauch eher auf Misshandlung hin. Typisch für Sturzverletzungen sind hingegen Lokalisationen an Handballen, Ellenbogen, Knie und Schienbein sowie am Kopf im Bereich der "Hutkrempenlinie" oder darunter.

Hinweise auf Schlaggegenstände

Gelegentlich sind diese Hämatome geformt und lassen auf einen Schlaggegenstand schließen. Einwirkungen von stockähnlichen Werkzeugen oder Gürteln können Doppelstriemen hinterlassen. Auch Kratz- und Bisswunden sind oft Hinweise auf Misshandlung. Bissverletzungen mit einem Abstand von mehr als 3 cm zwischen den abgezeichneten Eckzähnen deuten auf einen erwachsenen Täter hin und sollten an einen sexuellen Missbrauch denken lassen.


Subdurales Hämatom durch Schütteltrauma

Besonders schwerwiegende Folgen hat das "Schütteltrauma" der Säuglinge. Hierbei wird das Kind am Rumpf oder an den Armen festgehalten und geschüttelt. Dadurch schwingt der Kopf hin und her und es reißen feine Blutgefäße unter der harten Hirnhaut. Blutungen vor der Netzhaut oder Blutungen bei der Liquorpunktion (subarachnoidale Blutungen) müssen den Verdacht auf ein Schütteltrauma erwecken.

In der Akutphase kommt es nicht selten zu einer dramatischen Steigerung des intracraniellen Drucks, wobei das Kind bewusstlos wird und zu krampfen beginnt. Oftmals fehlen dabei äußerlich erkennbare Verletzungen.

Die Symptome des subduralen Hämatoms sind vielfältig. Akut kommt es zu Benommenheit, Schläfrigkeit bis hin zur Bewusstlosigkeit sowie zu Erbrechen und zu Krampfanfällen. Zusätzlich können, müssen aber nicht zwingend, beim Schütteltrauma Griffmarken an Brustwand und Armen oder an den Knöcheln zu beobachten sein. Durch den Peitschenschlagmechanismus können sogar Wirbelkörperkompressionsfrakturen entstehen. Langfristig resultieren neurologische Abweichungen, Bewegungs- und Entwicklungsstörungen oder Anfallsleiden.

Nicht selten kommt zu dem Schütteln als pathologischem Mechanismus auch noch das Aufschlagen des Kopfes an einem Gegenstand hinzu, d.h. das Kind erleidet noch zusätzliche, oft mehrfache Hirnprellungen (JACOBI, 1995).


Epidurales Hämatom

Beim epiduralem Hämatom kommt es nach einigen Stunden oder wenigen Tagen zu Erbrechen, zunehmenden Bewusstseinsstörungen, neurologischen Ausfallserscheinungen und schließlich zu Bewusstlosigkeit. Eine Operation ist dann meist unumgänglich, um das Leben des Kindes zu retten.


Augenverletzungen

Unerklärliches plötzliches Schielen ist ein Symptom, das auf Misshandlung hinweisen kann. Ursache sind in diesem Fall Augenhintergrundverletzungen oder ein Hirnschaden. Selten auftretende mögliche Augenveränderungen sind Glaskörperblutungen im Anschluss an ein Schädelhirntrauma mit intrakranieller Blutung.

Feine flohstichartige Blutungen in den Augenbindehäuten und an den äußeren Lidhäuten können als Stauungsblutungen entstehen, wenn die Halsvenen beim Würgen oder Drosseln zugedrückt wurden, der arterielle Zufluss aber noch erfolgte. Flächenhafte Blutungen sind Folgen eines direkten Schlages auf das Auge.


Verbrennungen und Verbrühungen

Bei Verbrennungen und Verbrühungen lässt ein dem Entwicklungsstand des Kindes nicht entsprechendes Muster der Läsionen an Misshandlung denken. Unfallmäßige Verbrühungen entstehen, wenn ein Kleinkind heiße Flüssigkeit vom Tisch herunterzieht. In diesem Fall sind Hals, Brust, Schultern und Gesicht betroffen. Wenn ein Kind absichtlich in ein heißes Bad gesetzt wird, sind Gesäß und Hände gleichzeitig oder Hände und Füße gleichzeitig betroffen.

Dieses Verletzungsmuster kann nicht entstehen, wenn das Kind selbständig in die Badewanne steigt. Dann ist nur eine Hand oder ein Fuß betroffen. So sollte bei jeder Verbrühungsverletzung der genaue Hergang hinterfragt werden und der Entwicklungsstand des Kindes berücksichtigt werden.

Kreisförmige Verbrennungen am Handteller, unter den Fußsohlen und am Bauch können durch Zigaretten verursacht sein. Große runde Verbrennungen am Gesäß entstehen auch dadurch, dass Kinder auf die heiße Herdplatte gesetzt werden.


Verletzungen des Skeletts auch ohne Markersymptome

Bei Skelettverletzungen ist zu beachten, dass äußere Schwellungen und Hautblutungen als Markersymptome häufig, aber nicht immer vorhanden sind. Wenn ein völlig ruhiges Kind immer wieder schreit, wenn es hochgenommen oder gefüttert wird, kann u. U. ein Rippenbruch vorliegen, der von außen nicht erkennbar ist.


Frakturen

Polytope Brüche verschiedenen Alters, sowie periostale Reaktionen in unterschiedlichen Heilungsstadien deuten fast immer auf Misshandlungen hin. Besonders betroffen sind meistens Rippen und lange Röhrenknochen. Sehr typisch sind Absprengungen von Metaphysenkanten am Ende der langen Röhrenknochen und Epiphysenablösungen bei normaler Knochenstruktur, wenn ein adäquates Trauma in der Anamnese fehlt (sogenanntes "Battered-Child-Syndrom"). Hier können die Sonographie und die Sklelettszintigraphie unter Umständen wertvolle diagnostische Hilfe leisten.

Schädelfrakturen, die über mehrere Nähte verlaufen, Impressions- oder Trümmerfrakturen ohne entsprechende Vorgeschichte und wachsende Frakturen müssen immer den Verdacht auf eine Misshandlung aussprechen lassen. Wenn zu solchen Schädelfrakturen noch verschiedene alte und verschieden lokalisierte Hämatome am übrigen Körper und/oder ältere Frakturen anderer Skelettanteile hinzukommen, muss die Diagnose der Kindesmisshandlung ausgesprochen werden, auch wenn dies von den Eltern zehnmal in verschiedenen Versionen verneint werden sollte.

Das Auftreten von Knochenbrüchen bei Kindern von einem Lebensalter unter drei Jahren muss als hochverdächtig hinsichtlich einer möglichen Kindesmisshandlung angesehen werden (DALTON, 1990).


Röntgenaufnahmen wiederholen

Die Verkalkung an der Bruchstelle setzt innerhalb der ersten Woche nach der Verletzung ein und ist danach auf dem Röntgenbild nachweisbar. Daher ist es wichtig, bei dringendem Verdacht auf Misshandlung die Röntgenaufnahme nach ein bis zwei Wochen zu wiederholen. Computertomographien und Röntgenuntersuchungen (evtl. auch eine Skelettszintigraphie) sind vor allem bei Kindern unter drei Jahren wichtig, um überhaupt Misshandlungen erkennen zu können. Der behandelnde Arzt muss jedoch selbst im Einzelfall entscheiden, wann die Verdachtsmomente sich so verdichten, dass eine Röntgenaufnahme angezeigt ist.


Innere Verletzungen

Bei Misshandlung können innere Verletzungen entstehen, die durch stumpfe Schläge auf den Leib verursacht werden. Innere Verletzungen sind selten und schwer zu erkennen, weil meist keinerlei Hautbefunde auftreten. Andererseits können sie sehr gefährlich werden. Sie sind die zweithäufigste Todesursache bei körperlicher Misshandlung.

Im einzelnen kommen vor:

  • Magen- oder Dünndarmperforationen
  • Einrisse der Gekrösewurzel
  • Leber-, Nieren-, Milz- und Bauchspeicheldrüseneinrisse
  • Lungenverletzungen, Hämatothorax und Hämatoperikard

Darmverletzungen

Anhaltendes Erbrechen, Schmerzen, ein aufgetriebener Bauch, Ausbleiben der Darmgeräusche, Störungen des Stuhlgangs, Entzündungen des Bauchfells und Schock können durch Darmverletzungen hervorgerufen sein.


Vergiftungen

An Vergiftungen ist bei folgenden Symptomen zu denken: Müdigkeit, Apathie, "Abwesenheit", Gangunsicherheit und Bewusstlosigkeit. Vergiftungen können bei Säuglingen und Kleinkindern aus folgenden Gründen vorkommen:

  • Überdosierung eines verordneten Schlaf- oder Beruhigungsmittels (das Kind schläft nicht, das Kind ist unruhig). Eventuell wurden Beruhigungsmittel auch verabreicht, um das Kind ruhig zu stellen, damit die Betreuungsperson ungestört ist bzw. anderen Aktivitäten nachgehen kann.
  • Einnahme eines ungesicherten Medikaments durch Kleinkinder (Aufbewahrung von Medikamenten und Sicherungsmaßnahmen diskutieren).
  • Medikamentengabe als Tötungsversuch bei erweitertem Selbstmordversuch oder im Rahmen eines Münchhausen-Stellvertretersyndrom (Münchhausen-by-proxy-Syndrom).
  • Beim Verdacht auf Vergiftung sollte unbedingt eine Klinikeinweisung erfolgen (Drogenscreening und Blutalkoholuntersuchung).

 

Untersuchung bei Verdacht auf sexuelle Gewalt

Bei der Untersuchung sollte beachtet werden, dass das betroffene Kind eine körperliche Untersuchung als einen weiteren Übergriff erleben kann. Daher sollte die Untersuchung äußerst behutsam durchgeführt werden. Dem Kind sollen die Untersuchungsschritte erklärt werden. Der Arzt sollte offen über das Thema sprechen können und sich nicht überängstlich verhalten. Weigert sich ein Kind, so sollte es Zeit bekommen, mit der Situation vertrauter zu werden.

Somatische Untersuchung

Die somatische Untersuchung bei Verdacht auf sexuellen Missbrauch setzt sich zusammen aus der Erhebung eines Allgemeinstatus und eines Genitalstatus. Bei der Allgemeinuntersuchung ist ein pädiatrischer Status enthalten, bei dem insbesondere die Körperteile, die in sexuelle Aktivitäten oft einbezogen sind, genau untersucht werden, wie z. B. Brustbereich, Mund, Gesäß, Oberschenkelinnenseite.

Wenn der Arzt mit den Besonderheiten der genitalen Befunderhebung vertraut ist, kann er einen Genitalstatus erheben, der vorwiegend aus einer genauen Inspektion der Genital- und Analregion besteht.

Bei der Inspektion werden neben dem Gesamtaspekt des Genitalbereiches, die Klitoris, große und kleine Labien, Vulvaränder, Urethralbereich, Hymen in allen Anteilen sowie die Inguinalregion und der Anus beurteilt. Mit Hilfe der Separations- oder Traktionsmethode kann die Weite und Konfiguration des Introitus vaginae, die distale Vagina, die Fossa navicularis und die hintere Kommissur untersucht werden. Je nach Befund und Anamnese werden zusätzliche Untersuchungen erforderlich, z. B. mikrobiologische oder virologische Kulturen, serologische Untersuchungen oder der Nachweis von Sperma.

Eine gynäkologische Untersuchung, d.h. eine instrumentelle Untersuchung mit Vaginoskop oder Spekulum soll nicht routinemäßig durchgeführt werden, sondern in Abhängigkeit von der Anamnese, dem Befund bei der Inspektion und dem Alter der Patientin. Bei äußeren Verletzungen, Blutungen oder auch rezidivierenden Genitalinfektionen ist eine Untersuchung immer erforderlich.


Kindergynäkologische Untersuchung

Wenn sich der Arzt durch eine exakte kindergynäkologische Untersuchung überfordert fühlt, sollte eine kindergynäkologische Konsiliaruntersuchung in einer spezialisierten Klinik oder durch einen Rechtsmediziner mit Erfahrung in Befunderhebung und forensischer Bewertung angestrebt werden.

Liegt der vermutete sexuelle Übergriff mehr als 48 - 72 Stunden zurück und ist bei der Genitalinspektion keine Verletzung nachweisbar, können forensische Überlegungen vorerst in den Hintergrund treten und eine kindergynäkologische Konsiliaruntersuchung sorgfältig geplant werden. Hat ein Übergriff aber in den letzten 48 - 72 Stunden stattgefunden, so muss die Untersuchung unverzüglich erfolgen, um beweiserhebliche Hinweise festhalten zu können (siehe Dokumentationsbogen im Download-Bereich).

Körperlicher Befund bei sexuellem Missbrauch

Beim sexuellen Missbrauch gibt es kaum eindeutige Befunde. Als spezifische Symptome gelten alle Verletzungen im Anogenitalbereich ohne plausible Anamnese. Dazu gehören Hämatome, Quetschungen, Striemen, Einrisse und Bisswunden. Häufig entstehen auch ein weiter Eingang der Vagina bzw. Rötung, Einrisse oder venöse Stauung im Analbereich.

Im Zusammenhang mit dem Verdacht bzw. der Anschuldigung des sexuellen Kindermissbrauchs bleiben allerdings auch immer wieder Beweisfragen ungeklärt. Beispielsweise ist aus diversen Literaturangaben bekannt, dass keineswegs jedes Einführen eines männlichen Gliedes bzw. intravaginale Manipulationen zwangsläufig mit dem Zerreißen des Jungfernhäutchen oder mit sichtbaren Verletzungen im Scheidenbereich einhergehen (LOCKEMANN/PÜSCHEL 1999).

Die Intaktheit des Hymens schließt die Möglichkeit des sexuellen Missbrauchs (auch mit Einführen des Penis bei einem jungen Mädchen) nicht aus. Sehr schwierig ist auch die Beurteilung von alten Vernarbungen des Hymens, bei denen regelmäßig die Differenzialdiagnose einer früheren unfallmäßigen Pfählungsverletzung in die Diskussion gebracht wird.


Sexuell übertragbare Krankheiten als Hinweis auf sexuellen Missbrauch

Sexuell übertragbare Krankheiten wie z. B. Gonorrhoe oder Condylomata accuminata vor der Geschlechtsreife des Kindes sind mit größter Wahrscheinlichkeit Folge von Missbrauch. Auch bei einer Schwangerschaft in der Frühpubertät muss man immer an die Folge eines Missbrauchs denken. Daneben gibt es noch unspezifische Symptome, die ebenfalls beim Missbrauch entstehen können. Dazu zählen rezidivierende Harnwegsinfekte, vaginale Infektionen, sekundäre Enuresis und Enkopresis.

Sexueller Missbrauch ist sehr häufig durch eine körperliche Untersuchung nicht eindeutig diagnostizierbar. Bei Verdacht auf sexuellen Missbrauch sollten sich der behandelnde Arzt falls erforderlich von erfahrenen Kollegen oder multidisziplinären Einrichtungen beraten lassen, damit die Abklärung im Sinne des Kindes verlaufen kann und Schutz vor weiteren Übergriffen gewährleistet ist. Dadurch kann das Kind vor einer Retraumatisierung durch überstürztes, wiederholtes, falsches oder unüberlegtes Handeln geschützt werden.


Der Verdacht auf Misshandlung, Vernachlässigung oder Missbrauch kann auf verschiedene Weise entstehen:

  • Aufgrund von körperlichen Symptomen, z.B. eine ungeklärte Fraktur beim Säugling oder Zeichen mangelnder Hygiene,
  • aufgrund von auffälligem Verhalten des Kindes, z.B. plötzlich eintretender Schulleistungsknick mit sozialem Rückzug,
  • aufgrund von anamnestischen Angaben, z.B. unvollständige Vorsorgeuntersuchungen und Impfungen oder gehäufte Unfälle oder
  • aufgrund einer gestörten familiären Interaktion, z.B. mangelnde Zuwendung der Mutter oder feindseliges Verhalten gegen das Kind.

Wichtig ist ein dem Patientenalter gerechtes Untersuchungsverhalten. Die Symptomsuche sollte in unauffälliger Form erfolgen. Die positiven Aspekte der Untersuchung sollen immer hervorgehoben werden. Dem Kind soll bestätigt werden, dass es grundsätzlich gesund ist. Ziel ist es, dem Kind die Sicherheit zu vermitteln, dass es über seine Gewalterfahrungen frei sprechen kann.

Eine Orientierung und Hilfestellung für den Ablauf der Untersuchung sowie die Dokumentation geben die Befundbögen im Download-Bereich.


Die Diagnostik beim Verdacht auf Kindesmisshandlung ist als Prozess zu verstehen. So kann - wie in den nächsten Abschnitten ausgeführt - der Verdacht auf Misshandlung auf verschiedene Weise entstehen. In jedem Fall sind jedoch durch den Arzt die positiven Aspekte der Untersuchung hervorzuheben und dem Kind ein Gefühl der Sicherheit zu vermitteln.

Vielfältig können die körperlichen Befunde bei einem Verdachtsfall in Erscheinung treten: Hämatome, Verletzungen der Augen, Verbrennungen, Frakturen, Innere Verletzungen, Vergiftungen und andere Verletzungen. Hier muss zwischen Verletzung und Misshandlung differenziert werden - eine detailierte Aufstellung findet sich im Abschnitt "Körperlicher Befund".

Verhaltensauffälligkeiten von misshandelten oder vernachlässigten Kindern bei seelischer Gewalt werden im Abschnitt "Psychischer Befund" beschrieben.

Eine Beurteilung der familiären Situation kann durch Beobachtung von Eltern und Begleitpersonen, von Reaktionen der Eltern und dem Umgang mit dem Kind erfolgen. Belastungsfaktoren im sozialen Umfeld des Kindes sollten im Rahmen der Anamnese erhoben werden.

Ein weiterer Abschnitt befasst sich mit der Bewertung der Befunde und - bei Bestätigung der Verdachtsdiagnose - mit der Zusammenarbeit mit anderen Professionen. 

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